Prof. Dr. Peter Loebell, Dozent an der anthroposophischen Freien Hochschule Stuttgart, behauptet, dass die für die Waldorfpädagogik zentrale „Jahrsiebte-Lehre“ Rudolf Steiners mit der empirischen Forschung vereinbar sei.
Von unserem Gastautor Andreas Lichte.
Peter Loebell verweist als Quelle für seinen Artikel in der „erziehungsKUNST“ „Jahrsiebte: Naturgegebenheit oder gesellschaftliches Konstrukt?“ auf Rudolf Steiners Aufsatz „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft“, ohne selber daraus zu zitieren. Dort sagt Steiner, Seite 320:
„Man sieht aus dem Vorhergehenden, dass man beim Menschen von vier Gliedern seiner Wesenheit sprechen kann: dem physischen Leib, dem Äther- oder Lebensleib, dem Astral- oder Empfindungsleib und dem Ichleib. (…) Als Erzieher arbeitet man an diesen vier Gliedern der menschlichen Wesenheit.“
Wenn man als Erzieher „an ihnen arbeitet“, dann müssen diese „Glieder“/„Leiber“ ja zentral für die Waldorfpädagogik sein. Aber was sind „Ätherleib“ und „Astralleib“? Rudolf Steiner erklärt, Seite 316:
„Der Ätherleib ist eine Kraftgestalt; er besteht aus wirkenden Kräften, nicht aber aus Stoff; und der Astral- oder Empfindungsleib ist eine Gestalt aus in sich beweglichen, farbigen, leuchtenden Bildern. (4)
Der Empfindungsleib [= „Astralleib“] ist in Form und Größe von dem physischen Leibe abweichend. Er zeigt beim Menschen die Gestalt eines länglichen Eies, in dem der physische und der Ätherleib eingebettet sind. Er ragt an allen Seiten über die beiden als eine Lichtbildgestalt hervor.“
Noch nie gesehen? Siehe Fußnote (4), Rudolf Steiner: „Man muss unterscheiden zwischen dem Erleben des Empfindungsleibes in sich und dem Wahrnehmen desselben durch den geschulten Hellseher. Das, was dem erschlossenen geistigen Auge des letzteren vorliegt, ist mit obigem gemeint.“
Aha. Das sieht der „geschulte Hellseher“ Rudolf Steiner. Aber warum meint Loebell, sich auf Steiner berufen zu können? Ist Loebell selber „geschulter Hellseher“? Oder plappert er einfach nur nach, was ihm Rudolf Steiner vorgesagt hat? Das möchten wir bei einem „Prof. Dr.“ doch nicht hoffen!
Aber noch haben wir ja gar nicht erfahren, wie es eigentlich zu den „Jahrsiebten“ kommt. Die vier „Glieder“/„Leiber“ könnten ja alle gleichzeitig, von Geburt an, da sein. Nein, Steiner erklärt, Seite 320f.:
„Vor der physischen Geburt ist der werdende Mensch allseitig von einem fremden physischen Leib umschlossen. (…) Die physische Geburt besteht eben darinnen, dass die physische Mutterhülle den Menschen entlässt, und dass dadurch die Umgebung der physischen Welt unmittelbar auf ihn wirken kann. (…)
Für eine geistige Weltauffassung, wie sie von der Geistesforschung [„Geistesforschung“ = Anthroposophie] vertreten wird, ist damit wohl der physische Leib geboren, noch nicht aber der Äther- oder Lebensleib. Wie der Mensch bis zu seinem Geburtszeitpunkte von einer physischen Mutterhülle, so ist er bis zur Zeit des Zahnwechsels, also etwa bis zum siebenten Jahre von einer Ätherhülle und einer Astralhülle umgeben. Erst während des Zahnwechsels entlässt die Ätherhülle den Ätherleib. Dann bleibt noch eine Astralhülle bis zum Eintritt der Geschlechtsreife. In diesem Zeitpunkt wird auch der Astral- oder Empfindungsleib nach allen Seiten frei, wie es der physische Leib bei der physischen Geburt, der Ätherleib beim Zahnwechsel geworden sind.
So muss die Geisteswissenschaft von drei Geburten des Menschen reden.“
Nun behauptet Loebel, Steiners hellseherische „Erkenntnisse“ seien mit der empirischen Forschung vereinbar. Und betreibt eifrig Namedropping, um die „Wissenschaftlichkeit“ Steiners zu suggerieren – in Loebells kurzem Artikel finden sich: die „Entwicklungspsychologin Lotte Schenk-Danziger“, der „Neurobiologe Manfred Spitzer“, die „Entwicklungspsychologen Rolf Oerter und Eva Dreher“, der „Neurobiologe Joachim Bauer“ und der „Neurobiologe Gerald Hüther“ …
Aber würde auch nur einer der von Loebell als Zeugen benannten Experten wagen, öffentlich zu bekennen, dass die oben zierten „Grundannahmen“ Steiners richtig sind?
Im Interview für die Ruhrbarone befragte ich Prof. Dr. Stefan T. Hopmann, Bildungswissenschaftler an der Universität Wien, zu Steiners Jahrsiebten:
Lichte: noch einmal zur Jahrsiebtelehre – von 0–7 Jahre wird der physische Leib entwickelt, von 8–14 Jahre der Ätherleib, von 15–21 Jahre der Astralleib, vom 21. Lebensjahr an endlich das „Ich“ – erst dann ist der Mensch ein Mensch. Was sagen Sie zu Steiners Mensch aus dem Esoterik-Baukasten?
Hopmann: Wir leben in einer freien Gesellschaft. Also hat jede/r das Recht, jeden Unfug zu glauben. Nur sollten sich Eltern, die ihr Kind einer Waldorfschule anvertrauen, darüber im klaren sein, dass sie dann einer Pädagogik vertrauen, die ein heilloses Gebräu esoterischer Glaubenssätze über Drüsen, Zahnentwicklung, astrologischen Einflüsse und ähnliches ist, das von der modernen Kinderpsychologie und der aktuellen Lehr-Lern-Forschung durchweg als durch nichts begründbarer Unsinn abgelehnt wird. Entschiedene Waldorfianer wird das nicht anfechten: Wie alle Sekten sind sie gegen widersprechende Wissenschaft immun.
Zum Artikel beim Blog “Ruhrbarone”: http://www.ruhrbarone.de/waldorfschule-prof-peter-loebell-verkauft-rudolf-steiners-jahrsiebte/